Rezension zu „Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich“
Rainer Wochele in: Stuttgarter Zeitung, Lesezeichen vom 23.08. 2002
Der Kater, der Kanzler, Mörike und Ich
Die Katzen und der Kanzler, was haben die gemeinsam? Weiß doch jeder, die Weisheit, die Lebensklugheit natürlich! Leute, es ist Sommerzeit, Urlaubszeit, Wahlkampfzeit, da wollen wir die Dinge so ernst nehmen, wie sie in solcher Zeit genommen werden müssen: federleicht, schnurrbarthaarleicht. Und auf diese Weise sei hier geredet, eben von den Katzen und vom Kanzler, einem Kanzler an sich. Und von Mörike. Und einem Politikbeobachter namens Ich…
Und ja, Leute, das gilt auch, wenn man mal die Politik und den Zustand des Landes und das Geschäft eines Kanzlers als solchen, aus den Fesseln der Logik befreit, hinaufdreht ins Absurde, Surreale und wenn man mal dem Kanzler ein paar neue Figuren zur Seite stellt. Das hat listig und vergnüglich Rudolf Stirn, in Weissach im Tal lebender Autor von Romanen und Erzählungen und zudem Kopf des dortigen Alkyon Verlages, getan in seinem literarischen Capriccio (Duden: scherzhaftes, launiges Musikstück) mit dem Titel „Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich“.
Darin als Personage: eine Figur namens „Ich“ und eine namens „Nichtich“, der Kanzler natürlich, ein Kerl namens Kleiner, der irgendwie auch Hunzinger heißen könnte, Eduard Mörike. Dieses Personal wird assoziationsstark mit Aktualitätssplittern, Nachrichtenfetzen verknüpft, und alles wird vermixt zu einem grellfarbigen, schön schrägen, oftmals satt komischen Wirbel von surrealen Dialogen, Szenen, Geschichten, Aperçus.
Klingt dann zum Beispiel so: „Der Kanzler öffnet den Mund und verschluckt die halbe Nation.“ Oder: „Die Politik ist in unguten Händen. Gehen Sie ruhig ihren Geschäften nach.“ Oder: „Der Kanzler schickt Beileid in den Äther. Ich bedauere alle.“ Da ist, neben vielerlei Themen aus Gegenwart und Vergangenheit, zum Beispiel von einem Sparprogramm die Rede, wonach es nur noch eine einzige Zahnbürste für die ganze Nation gibt: „Der Mundgeruch nimmt zu. Er verpestet Europa.“ Man könne nichts machen, sagt der Kanzler, der die letzte Zahnbürste hat. In Schilda. Denn: „Berlin hat sich aufgegeben. Schilda wird Hauptstadt.“
Und dann Mörike, der Empfindling und Gutmensch. Wie er unterm Hupkonzert von der Autobahn her still auf Cleversulzbach zuwandert. Wie er mit dem Kanzler fingerhakelt, „der Kanzler muss das Volk unterhalten“, wie er mit dem Schlauchboot nach Amerika will und für einen Spion gehalten wird. Hat man des Autors Capriccio-Code erst mal geknackt, blitzen hinter derlei Absurditäten immer wieder leicht, schnurrbarthaarleicht die gewichtigsten Wahrheiten auf. Über Leben, Land und Kanzler.
Rudolf Stirn: Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich. Alkyon Verlag Weissach im Tal, 104 Seiten, 9,40 Euro.
© Rainer Wochele